Maria

Der Begriff der Reinheit im Christentum

8.1 Reinheitsvorstellungen und Vorschriften im russisch-orthodoxen Christentum

Für das bessere Verständnis der orthodoxen Reinheitsvorstellungen und ihrer Besonderheiten im Vergleich zu denjenigen des Katholizimus und Protestantismus scheint es mir besonders wichtig, die Grundmerkmale der russisch-orthodoxen Glaubensrichtung kurz zu skizzieren.

Einer der wichtigsten Aspekte des orthodoxen Christentums, das von den Vertetern anderer, progressiverer Abzweigungen oft als starr angesehen wird, ist die Erhaltung der Tradition. Das weltliche Leben und die Kirche waren in Russland seit Jahrhunderten eng miteinander verknüpft. Die russische religiöse Tradition wird stark durch die Begriffe Demut und Ergebenheit geprägt; in ihrem Mittelpunkt stehen vor allem Werte wie Familie und Nächstenliebe.

Eine solche Werteordnung fand ihren Ausdruck in Besonderheiten des Kultes: „Dogma und Ethik sind in dem sakramentalen Wirken und christlichen Dasein des weltlichen Priesters eng miteinander verbunden“.[161] Ein orthodoxer Priester sah seine Berufung darin, den Mitgliedern seiner Gemeinde Vorbild zu sein und sie auf dem Weg zur Heiligkeit zu leiten. Dies erklärt teilweise die Abwesenheit der Zölibatspflicht für Priester. Mehr noch, gehört die Ehe zu einer der Bedingungen für die Ordination der zukünftigen Gemeindeleiter.[162]

In den Werken mehrerer Kirchenväter findet man Hinweise auf die besondere Rolle, die die Familie in religiösen Dingen spielt. Sophie Deicha, die sich mit den Besonderheiten des orthodoxen Priestertums beschäftigt hat, betont in ihrem Aritkel Die Frauenordination und die Russisch-Orthodoxe Kirche die Wichtigkeit dieser Verbindung für das gesamte orthodoxe Christentum, die auf das besondere Verhältnis zwischen dem Religiösen und dem Sozialen verweist: „die Priesterwürde wurzelte fest in der sozialen Struktur des Dorfes, der Stadt und des Landes“.[163]

Ein Priester wurde somit zum Vorbild für seine Gemeinde, er propagierte die christlichen Werte eines harmonischen Ehe- und Familienlebens durch das Beispiel seiner eigenen Lebensführung. Von daher exisitiert der Begriff des Zölibats für die weltlichen orthodoxen Priester nicht, diesen Begriff findet man erst im Mönchtum und bei den oberen Klerikern.

Was den Begriff der Reinheit betrifft, findet man in der Orthodoxie zunächst all die Elemente, die uns schon im katholischen Christentum begegnet sind: das Hervorheben der Jüngfräulichkeit, der Askese, den Verzicht auf alles Körperliche, die rituelle Unreinheit physiologischer Zustände und Prozesse wie Menstruation und Geburt. Etwas detaillierter wird das Thema im Werk eines russich-orthodoxen Bischofs und Theologen, des Vaters Varnava (Beljaev), belichtet.

Sein Buch Osnovy iskusstva svjatsosti (Die Grundlagen der Kunst Heilig zu sein) soll den Gläubigen als eine Art Verhaltenskodex dienen, in der sehr eindeutig erklärt wird, was richtig und somit 'heilig' ist, was rein ist und was vermieden werden muss. Besonderen Wert legt Varnava auf Jüngfräulichkeit – und begründet seine feste Überzeugung in dieser Frage mit Aussagen der Kirchenväter wie Kliment aus Alexandria.

Die Reinheit der Ehe ist für ihn ein absolutes Gut. Sie darf nicht einmal durch den bloßen Gedanken an die Möglichkeit außerehelicher Kontakte befleckt werden. Außerdem muss die Reinheit innerhalb der Ehe stets aufrecht erhalten werden – übermäßiges Engagement im Bereich des Sexuellen gilt als das Eheleben verschmutzendes Verhalten und wird daher streng kritisiert. Varnava ermahnt alle verheirateten Leute sich strikt an die Worte des Apostels Paulus zu halten: "Unzucht aber und alle Unreinigkeit und Habsucht lasset nicht von euch gesagt werden, wie es den Heiligen ziemt".[164]

Obwohl die heilige Kirche laut den Ausführungen des Bischofs die Ehe als solche zulässt, werden doch alle Anstrengungen unternommen, um die Aufmerksamkeit der Gläubigen von allem Körperlichen ab und auf den Bereich der Geistigkeit hin zu lenken. Varnava macht deswegen sehr klar, dass die Ehe als solche nicht als das Ideal des irdischen Lebens gesehen werden kann, denn: "In der Auferstehung werden sie weder freien, noch sich freien lassen, sondern sie sind gleichwie die Engel im Himmel".[165] Daraufhin zitiert er Gregor von Nazianzus: "Selig sei das Leben der glücklichen Jungfrauen, die, nachdem sie das Fleisch abgelehnt haben, näher zu der reinen Gottheit sind!"[166]

Im Vordergrund steht allerdings nicht nur die körperliche, sondern vielmehr die geistige Jungfräulichkeit und Reinheit. Varnava nennt etliche Werke christlicher Theologen – Cyprian von Karthago, Gregor von Nissa, Johannes Chrysostomos, Gregor von Nanzianzus – die Jungfräulichkeit als reinste und größte aller Tugenden preisen: "Jungfräulichkeit genügt ein Lob – als Tugend, die über allem Lob steht erklärt zu werden – damit das Erstaunen an ihrer Reinheit mehr in den Taten als in den Wörtern ausgedrückt wird".[167]

Um eine solche Reinheit zu erreichen genügt es nicht, völlige körperliche Enthaltsamkeit zu üben – man muss vielmehr zugleich sein spirituelles Wachstum, das laut Varnava, ein absolutes Ideal aller Gläubigen darstellt, gezielt fördern. Allerdings beginnt dieses Fördern bereits damit, die schädlichen und unnötigen Freuden des irdischen Lebens möglichst zu vermeiden: "So wie einem Säugling das Brot gegeben wird, nachdem er bereits mit der Muttermilch ernährt wurde, so muss ein Mensch, der nach der jungfräulichen Reinheit der Seele strebt und sich dem Heiligen näher machen gedenkt, sich vor allem der Welt fern halten, so wie ein Säugling der Mutterbrust fern gehalten wird".[168]

Dieses Ideal der heiligen Jungfräulichkeit, das sich auf die Worte des Apostel Paulus zurückführen lässt, gehört fest zu den Grundlagen des orthodoxen Christentums – heilig und jungfräulich sind auch in dieser Abzweigung der Religion feste Synonyme. Dies erklärt auch das Keuschheitsgebot für die höheren Priester, dessen theologische Begründung im Werk des orthodoxen Heiligen Iosif Voločkij vorzufinden ist: "Indem er von einer Jungfrau geboren wurde, hat unser Herr der Jungfräulichkeit die Ehre erwiesen, weil diese viel höher und vorzuglüglicher ist als die Ehe. So wie die Engel höher als die Menschen sind, wie der Himmel höher als die Erde, so sind die Jungfrauen mehr zu ehren als die Verheirateten, denn die Jungfräulichkeit macht einen engelsgleich".[169]

Ich habe bereits beschrieben, welche Unstimmigkeiten es im Katholizismus hinsichtlich der Frage gab, ob eine Frau während ihrer Periode als rein angesehen und folglich kultisch aktiv werden kann. Im orthodoxen Christentum sieht die Situation sehr ähnlich aus. Patriarch Pavel Serbskij versucht eine Antwort auf dieser Frage in seiner Predigt Možhet li ženščina vsegda poseščat hram? (Soll eine Frau immer die Kirche besuchen können?) zu finden. Er sucht nach entsprechenden Zitaten in den heilgen Schriften sowie bei solchen Theologen wie Origenes oder Nikodemus Hagioreites und kommt zu folgendem Schluss: "Im Geiste der hier genannten evangelikalen und kanonischen Ansicht finde ich, dass die monatliche Reinigung der Frau sie nicht rituell und bezogen auf das Gebet unrein macht. Diese Unreinheit hat vielmehr einen physiologischen, körperlichen Charakter, genauso wie die Ausscheidungen anderer Organe".[170]

Obwohl einer Frau solche Handlungen wie das Betreten der Kirche, das Küssen der Ikonen, die Einnahme des Abendmahlbrots und des heiligen Wassers sowie das Singen im Kirchenchor genehmigt werden müssten, beharrt Pavel Serbskij darauf, dass sie am Ritual der Eucharistie und der Taufe keinesfalls teilnehmen dürfe.[171]

In diesem Kommentar sehe ich eine klare Parallele zu den gescheitetren Versuchen Papst Gregors des Großen (auf die ich bereits im ersten Abschnitt des fünften Kapitels eingegangen bin), Menstruation als einen rein körperlichen Prozess ohne Bedeutung für den Kult darzustellen – denn auch heute noch wird über dieses Thema sehr aktiv und kontrovers diskutiert. Nach einer kurzen Analyse der größten orthodoxen Internet-Foren (z.B. Forum des Diakons Andrej Kuraev, Internet-Konferenz der orthodoxen Zeitung Blagovest (Frohe Botschaft) etc.) konnte ich feststellen, dass Frauen sich oft sehr verunsichert fühlen und den Rat eines Priesters mit möglichst genauen Anweisungen suchen. Die meistverbreitete Meinung dazu deckt sich in etwa mit der oben genannten Antwort des Mitropoliten Pavel Serbskij.

Einer der bedeutendsten russischen Theologen des 20. Jahrhunderts, Metropolit Surozhskij bietet in seinem Werk Čelovek pered Bogom (Mensch vor dem Gott) eine sehr interessante Interpretation des Begriffs der Keuschheit. Er unterscheidet darin zwei Arten der Keuschheit: die körperliche und die geistige und gibt folgende Definition: "Keuschheit ist ein solcher Zustand des Menschens, der ganz geworden ist, der einerseites im Gott verwurzelt ist und an seiner Reinheit teil nimmt; andererseits, wenn dieser Mensch genug im Gott verwurzelt ist und seiner Würde bewusst ist – dann kann er seine Geistigkeit, d.h. Gedanken, Gefühle von Beschmutzung frei halten".[172]

Körperliche Keuschheit, die laut Metropolit Surozhskij ohne geistige Keuschheit nicht möglich ist, hat ihre Begründung in der Tatsache, dass der menschliche Körper einen Teil der vom Heiligen Geist erschaffenen, d.h. reinen Welt darstellt und deswegen als heilig und rein verstanden werden soll. Ein Mensch hat deswegen kein Recht dazu, diesen Teil der reinen Welt zu beschmutzen, da er mit Gott nicht nur im Bereich des Geistigen, sondern auch durch seinen Körper kommuniziert. Als Beispiel dafür wird das Ritual der Taufe genannt, in dem ein Mensch von den Beschmutzungen der Sünde mithilfe des reinen, heiligen Wassers befreit wird.

Das Brot und der Wein im Ritual des Sakramentes symbolisieren göttliche Reinheit – und indem ein Mensch diese geweihten Lebensmittel zu sich nimmt, kann er durch das Materielle hindurch dem Heiligen teilhaftig werden. Metropolit Surozshkij resümiert:

"Unser Körper ist ein Teil der unbeschmutzen Welt, besser gesagt, der reinen Welt, die vom Menschen beschmutzt wurde. Indem wir den Körper Gott zurück geben, reinigen wir ihn. Deswegen besteht wahre Keuschhet darin, den eigenen Körper und die eigene Geistigkeit als die von der Anwesenheit Gottes durchdrungene Heiligkeit zu erkennen".[173]

Sehr interessant sind aus dieser Sicht die Ansichten des Metropoliten zur Ehe. Seine Aussagen enthalten nichts abwertendes, im Gegenteil, betont er die Bedeutung der Ehe als reine Bindung zwischen zwei Menschen, die auf gegenseitigem Respekt und Liebe basiert: "Und wenn ein Mensch mit dem anderen innerhalb der Ehe körperlich verkehrt, dann ist es keine Beschmutzung, sondern der Moment, in dem der eine Mensch dem anderen - der ihn liebt, ihn respektiert, ihn mit Ehrfurcht behandelt - seine Reinheit gibt, um diese Reinheit mit demjenigen zu teilen, der ihn in seiner eigenen Reinheit des Herzens, in seiner geistigen Keuschheit wahrnimmt".[174]

Metropolit Surozshkij betont außerdem, dass Enthaltsamkeit und Keusscheit keineswegs äquivalent sein müssen, da es möglich sei, dass ein Mensch alles Körperliche meidet, sein Herz und Verstand aber trotzdem vom Feuer der leidenschaftlichen Gedanken beschmutzt werden.[175] Die wirkliche Keuschheit besteht für ihn nicht in Verneinung des Fleisches, sondern in der Fähigkeit, im eigenen Körper Reinheit zu erkennen und dieses Heilige mit einem anderen Menschen teilen zu können.

Die Ansichten des Metropolits erscheinen jedoch als eher untypisch für das orthodoxe Christentum, fast revolutionär, denn fast überall in der orthodoxen Theologie bedeuten Jungfräulichkeit, Keuschheit körperliche Enthaltsamkeit. Diese abwertende Wahrnehmung des Sexuallebens macht die Grenze zwischen dem zwar gesellschaftlich angesehenen aber mit der wirklichen Heiligkeit nicht vereinbarenden Familienleben und der Enthaltsamkeit der oberen Priester besonders sichtbar. Etwas detaillierter werde ich das im nächsten Abschnitt dieses Kapitels erläutern.

[161] Deicha, Sophie: Die Frauenordination und die Russisch-Orthodoxe Kirche. In: Bock, Wolfgang, Lienemann, Wolfgang: Frauenordination. Studien zu Kirchenrecht und Theologie, Bd. III. Heidelberg 2000, S. 122.

[162] Vgl. Ebd.

[163] Ebd., S. 123.

[164] Epheser 5,3

[165] Mt 22,30

[166] Gregor von Nanzianzus zit. n. Episkop Varnava (Beljaev): Osnovy iskusstva svjatosti (Die Grundlagen der Kunst heilig zu sein). Nižnij Novgorod 2000, S. 45.

[167] Gregor von Nissa zit. n. Episkop Varnava, S. 46.

[168] Ebd.

[169] Prepodobnij Iosif Voločkij: Prosvetitel´ (Der Aufklärer). Moskva 1994, S. 75.

[170] Patriarch Pavel Serbskij. Možhet li ženščina vsegda poseščat hram? (Soll eine Frau immer die Kirche besuchen können?)
. Rev. 10.10.2007.

[171] Vgl. Ebd.

[172] Mitropolit Antonij Surožskij: Čelovek pered Bogom (Der Mensch vor Gott). Moskva 2000, S.509.

[173] Ebd., S. 510.

[174] Ebd.

[175] Vgl. Ebd.
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