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Der Begriff der Reinheit im Christentum

2. Der Begriff der Reinheit

Wie definiert man Reinheit? Welche Funktionen hat sie innerhalb des christlichen Glaubenssystems? In ihrem Artikel Zum Begriff der Reinheit weist Christina von Braun darauf hin, dass eine Definition dieses Begriffs ohne Miteinbeziehung der Kategorie des Unreinen unmöglich ist. Ihr zufolge liegt die Bedeutung des Reinheitsbegriffs darin, dass „er – je nach Bedarf – dazu dient, Abgrenzungen vorzunehmen und bestimmten Grundsätzen die Aura der 'Wahrheit' zu verleihen, gegen die das Unreine als Unwahr gilt“.[4]

Diese Meinung teilt auch Mary Douglas, die sich auf den Begriff des Unreinen konzentriert: „Die Vorstellung einer Verunreinigung ergibt nur einen Sinn im Zusammenhang mit einer umfassenden Denkstruktur, deren Hauptstützen, Grenzen, Randbereiche und inneren Unterteilungen durch Trennungsrituale aufeinander bezogen sind“.[5] Es ist also unmöglich von rein oder unrein innerhalb eines Glaubenssystems zu sprechen und dabei vom Kontext zu abstrahieren, in dem diese Zuschreibungen zur Anwendung kommen.

Was sind nun die wichtigsten Funktionen der Reinheit? Nach Michael Stausberg wird sie zu einem Instrument der Grenzziehung – sowohl innerhalb eines Glaubenssystems als auch außerhalb. Im letzten Fall grenzt sie das System von anderen Glaubenssystemen ab: „In differenzierten religiösen Systemen bzw. Kulturen stellen die Kategorien rein und unrein eine klassifikatorisch-kommunikative Leitdifferenz dar. Diese regelt Grenzen nach Innen [...], sowie nach außen“.[6]

Von Braun beschreibt dieses Phänomen folgendermaßen: „was sich letztlich hinter der Reinheit verbirgt, ist eine Definition von dem, was die Gemeinschaft zu einer 'Einheit' werden lässt. Es sind Gesetze, die die Gemeinsamkeit ebenso betonen wie den Ausschluss von allem oder allen, die als 'unrein' oder als verunreinigend bezeichnet werden“.[7]

Dieser Gedanke wird von der Etymologie des Wortes rein bestätigt, die lange Zeit als ungesichert galt.[8] Heutzutage hat sich die Ende des 19. Jahrhunderts von dem Sprachwissenschaftler Friedrich Kluge vorgeschlagene Interpretation etabliert, der zufolge das Wort 'rein' indogermanische Wurzel hat: '*(s)keri-, *(s)krei-, *(s)kri- 'schneiden, scheiden'.[9] Kluge schlägt als Definition „gesichert, gesäubert“[10] vor.

Außerdem wählt Härle aus einer Vielzahl an Definitionen des Wortes rein zwei aus, deren Vergleich sofort zeigt, dass es eines Exkurses in die Etymologie bedarf, um die tiefere Bedeutung des Begriffes verstehen zu können. Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird rein als „frei von fremdartigen, das entweder auf der oberfläche haltet oder dem stoffe beigemischt ist, die eigenart trübend“[11] definiert, im Etymologischen Wörterbuch des Deutschen von Friedrich Kluge dagegen wird auch die bildliche Bedeutung des Begriffs genannt: „ohne fremdartige Bestandteile, unvermischt, unverfälscht, frei von Schmutz, sauber, frisch gewaschen, unberührt, keusch, vollkommen, fehlerlos“.[12]

Von Braun illustriert ihr Statement über die abgrenzende Funktion des Reinen mit einer Metapher, in der sie eine Gemeinschaft mit dem menschlichen Körper vergleicht, dessen Grenzen von den Reinheitsvorstellungen der jeweiligen Gemeinschaft definiert werden. Überhaupt scheint der Begriff der Reinheit sehr oft in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem menschlichen Körper verstanden zu werden. Michael Stausberg weist darauf hin, dass Reinheit zuerst auf körperlicher Ebene internalisiert wird, wobei Menschen lernen, körperliche Ausflüsse und Grenzüberschreitungen (wie z.B. Geschlechtsverkehr) als verunreinigend wahrzunehmen.[13]

Mary Douglas, deren Werke zum Thema Reinheit als richtungweisend gelten, verweist ebenso auf das Bild des menschlichen Körpers zur Erläuterung der Funktion des Reinen: „Der Körper liefert ein Modell, das für jedes abgegrenzte System herangezogen werden kann. [...] Es ist ausgeschlossen, dass wir Rituale interpretieren können, in denen Exkremente, Muttermilch, Speichel und Ähnliches eine Rolle spielen, wenn wir den Körper nicht als ein Symbol für die Gesellschaft begreifen oder übersehen, dass die Kräfte und Gefahren, die es in der Sozialstruktur geben soll, im kleinen auch durch den Körper ausgedrückt werden können“.[14]

Reinheit hat ein enormes Machtpotenzial – nicht nur innerhalb einer religiösen Gemeinschaft. Beispiele dafür können in vielen Bereichen unseres Lebens gefunden werden, wie sich beispielsweise am Begriff der Katharsis in der Psychologie zeigen lässt. Auch in der Sprache lassen sich zahlreiche Beispiele finden: ein Drogenabhängiger, dem es gelungen ist, die Macht der Drogen zu überwinden, und in ein 'normales' Leben zurückzukehren wird als 'clean' bezeichnet. Er gehört damit nicht mehr in die 'unreine' Welt der Drogen, sondern ist wieder ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft (allerdings nur bedingt, da seine vormalige Verhaltensform als illegal betrachtet wird und nicht ohne Konsequenzen für den sozialen Status eines Menschen bleiben kann). Da Drogenkonsum innerhalb unserer Gesellschaft als etwas verunreinigendes gilt, bekommen dadurch andere Mitglieder die Macht, einen Drogenabhängigen sozial zu 'stigmatisieren' und ihm seinen Status als Bürgers mit allem Recht streitig zu machen.

Als weitere Funktion der Reinheit kann also die Ausübung von Macht genannt werden: das Unreine und seine Träger werden zu schwächeren Elementen eines sozialen Systems erklärt. Ein Beispiel dafür ist Menstruation, die, so Stausberg als „ein gängiges Instrument zur Stigmatisierung der Frau als 'unrein' im Sinne von minderwertig“[15] fungieren kann. In den folgenden Kapiteln werde ich mich besonders auf diese Funktion der Reinheit konzentrieren, weil sie meiner Meinung nach die Verteilung der sozialen Rollen am deutlichsten beeinflusst.

Gewöhnlich wird physische Reinheit mit Handlungen wie Putzen oder Waschen aufrecht erhalten, für die seelische, religiöse Reinheit sind Reinheitsrituale typisch. Zu dem Prinzip, nach dem solche Rituale funktionieren, sagt Douglas: „Mit ihrer Hilfe werden symbolische Strukturen entwickelt und öffentlich dargestellt. Innerhalb dieser Strukturen werden ungleichartige Elemente in Beziehung zueinander gesetzt und wird ungleichartigen Erfahrungen eine Bedeutung verliehen“.[16]

Als Beispiel dafür kann das christliche Ritual der Taufe genannt werden: jemand, der getauft wird, erkennt damit die Regeln jener religiösen Gemeinde an und lässt den Schmutz seiner vorherigen Sünden (im Falle eines Babys – die Erbsünde) hinter sich. Dieses Ritual spiegelt die Beziehung zwischen der Gesellschaft und ihrer einzelnen Mitgliedern, die nur im Falle ihrer Teilnahme an einer Reinigungsprozedur als solche gelten können, wider.

James J. Preston schreibt zu den Funktionen der Reinheit: „Pollution/purity norms serve clear sociological and biological purposes, reinforcing the boundaries of the community, ensuring the survival of the group, reinforcing principals of health, and assisting individuals to cope ritually with life crises“.[17] Zudem weist er auf eine weitere, in dieser Arbeit noch nicht erwähnte Funktion hin, die seiner Meinung nach ein zentrales Moment aller derartigen Rituale darstellt – die Kommunikation mit dem Göttlichen. Die klar definierten Grenzen zwischen dem Reinen und dem Unreinen innerhalb der menschlichen Gesellschaft, sowie die Durchführung bestimmter Reinigungshandlungen erlauben, so Preston, das Erstellen von „channels of communication with the divinity“.[18]

Preston stimmt Douglas zu in ihrer Ansicht, dass Normen der Reinheit/Unreinheit ideologische und soziale Systeme innerhalb einer Gesellschaft symbolisieren, allerdings geht er in seiner Definition dieser Begriffe noch etwas weiter: „Defilement represents human failure to attain perfection, to realize a godlike nature, while purification is the human expression of divine aspirations“. [19]

Es lässt sich also vermuten, dass die innerhalb einer Gesellschaft akzeptierten religösen Reinheitsvorstellungen einen Überblick über die gesellschaftlichen Wechselbeziehungen, vor allem die zwischengeschlechtliche Beziehungen, gewähren können.

[4] Von Braun, Christina: Zum Begriff der Reinheit. In: Metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis, 11, 1997, S. 6.

[5] Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Berlin 1985, S. 60.

[6] Stausberg, Michael u.a.: Rein und unrein. In: Religion in Geschichte und Gegenwart VII (2004), S. 239.

[7] Von Braun 1997, S. 9.

[8] Vgl. Härle, Gerhard: Reinheit der Sprache, des Herzens und des Leibes. Zur Wirkungsgeschichte des rhetorischen Begriffs puritas in Deutschland von der Reformation bis zur Aufklärung. Tübingen 1996, S. 47.

[9] Kluge zit. n. Härle, S. 47.

[10] Kluge zit. n. Härle S. 47.

[11] Grimm zit. n. Härle S. 47.

[12] Kluge zit. n. Härle S. 47

[13] Vgl. Stausberg 2004, S. 239-240.

[14] Douglas 1985, S. 152.

[15] Stausberg 2004, S. 240.

[16] Douglas, Mary: Ritual, Reinheit und Gefährdung. In: Belliger, Andrea u. a. (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, 3. Aufl. Wiesbaden 2006, S. 78.

[17] Preston, James J.: Purification. In: Jones, Lindsay (Hrsg.): Encylopedia of Religion. Bd. 11. Detroit u.a. 2005, 11, S. 7510.

[18] Ebd.

[19] Ebd.
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