Maria

Der Begriff der Reinheit im Christentum

9. Schlussbetrachtung

Nachdem ich einen detaillierten Einblick in verschiedene Abzweigungen des Christentums gewonnen habe, zeigt sich mir ein ziemlich eindeutiges Ergebnis. Im Folgenden sollen die Kernpunkte dieser Arbeit noch einmal kurz zusammengefasst werden.

Reinheit zeichnet sich vor allem durch ihre Wechselbeziehung mit Unreinem aus. Im Christentum wird sie häufig mit der Kategorie des Heiligen gleichgestellt. Zu den Hauptfunktionen der Reinheit innerhalb einer Religion gehören die Trennfunktion (das 'Wahre' wird von 'Unwahrem' abgegrenzt, die Mitglieder einer religiösen Gemeinde – von den Nicht-Mitgliedern), sowie die Machtfunktion (derjenige, der den Zustand der Reinheit erreichen kann, verfügt dadurch über den Zugang zu dem Heiligen und somit über die Entscheidungsmacht).

Wie ich bereits im fünften Kapitel zeigen konnte, liegen die Wurzeln der Jahrhunderte lang ausgeübten sozialen Ordnung noch tiefer, denn bereits das antike Christentum wurde vom Judentum sowie heidnischen Religionen stark beeinflusst wobei mehrere religiöse und soziale Muster übernommen wurden. Diese Muster wurden zwar stark transformiert, was wiederum dazu führte, das dass Christentum als Ganzes eine Religion mit relativ wenigen formalen Reinheitsgeboten darstellt. Dennoch sind sie auch in der neuen Form des Christentums noch erkennbar. Als Beispiel dafür kann die Übernahme der Vorstellung von der Unreinheit der Frau zu Zeiten ihrer Regel genannt werden, die sowohl im Christentum als auch im Judentum anzutreffen ist.

Eine besondere Form nahm die Vorstellung von Reinheit im Katholizismus an: seit dem frühen Mittelalter hat sich das Ideal der Askese und Enthaltsamkeit immer mehr etabliert und bekam im Laufe der Zeit etliche theologische Begründungen. Das Körperliche wurde dabei zum Synonym des Unreinen – dieses Phänomen fand seinen Ausdruck in der Einführung des Zölibats, welches den Dienern des Kultes besondere geistliche Reinheit garantieren sollte. All das hatte gewisse negative Konsequenzen für die Stellung der Frauen innerhalb der Kirche – bereits im dritten Jahrhundert war für sie aktive Teilnahme an einem Gottesdienst nicht mehr denkbar. Bis heute hat sich diese Situation nicht geändert: trotz wiederholter Versuche einiger Katholikinnen haben Frauen in den römisch-katholischen Kirchen kein Recht auf das Priesteramt.

Der Protestantismus zeichnete sich zwar durch die Aufhebung des Zölibats aus, doch auch hier gab es eine Reihe von Reinheitsvorstellungen, welche sich in erster Linie auf die strikte Aufrechterhaltung einer bestimmten Gesellschaftsordnung bezogen. Während die eheliche Sexualität nicht mehr als unrein angesehen wurde, galten alle sexuellen Aktivitäten, die außerhalb einer Ehe stattfanden, als unzulässig. Obwohl das Laienpriestertum nach Luther möglich und in bestimmten Fällen sogar erforderlich war, hatten die Frauen kein Stimmenrecht innerhalb der Kirche. Luther begründete diesen Ausschluss mit der aus der Heiligen Schrift folgenden natürlichen Ordnung, in deren Rahmen eine Frau sich der Macht des Mannes unterwerfen sollte. Allerdings fanden im Laufe des 20. Jahrhundert in dieser Abzweigung des Christentums bedeutende Veränderungen statt – seit 1978 gilt in der EKD das gleiche Recht auf Ordination für beide Geschlechter.

Im russisch-orthodoxen Christentum können mehrere Parallelen zu den im Katholizismus ausgeübten Reinheitsanforderungen festgestellt werden, beispielsweise die Gleichstellung der Begriffe der Reinheit, Jungfräulichkeit und Keuschheit. Obwohl keine Zölibatspflicht für Gemeindepriester besteht (im Gegenteil sollen sie mit eigenem Vorbild das harmonische Familienleben, das zu den Zentralwerten der Orthodoxie gehört, der Gemeinde fördern), leben die oberen Kleriker in völliger körperlicher Enthaltsamkeit. So, wie im Katholizismus, haben Frauen kein Stimmenrecht innerhalb der Kirche - doch im Unterschied zu dem westlichen Christentum wird hier über die Möglichkeiten einer Frauenordination nicht diskutiert und vielen orthodoxen Theologen erscheint eine solche Fragestellung an sich als überflüssig.

Die soziale Ungleichheit der Geschlechter hing bis vor kurzem mit den religiösen Geschlechterverhältnissen eng zusammen und spiegelte diese wider. Diese Ungleichheit hat ihren Ursprung bereits in der Heiligen Schrift und ihren Auslegungen. Demmytenaere illustriert das mit seinem Kommentar zum bekannten Zitat aus dem Paulusbrief an die Galater: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Weib; ihr seid allzumal einer in Christus Jesus“.[199] Allerdings stellt er fest, dass „Being one in Jesus Christ, however, did not mean being equal. Man was the first in the order of Creation and in the order of relationship. Women ought to be subservient to their husbands“.[200]

Die Reinheitsvorstellungen spielen dabei eine enorm wichtige Rolle, denn sie dienen als Begründung der sozialen Ungleichheit und als ihr Katalysator zugleich: „The factual social inequality of woman, finding expression in a ritual context, becomes a theologically legitimized norm“.[201] Auf die in der Einführung bereits erwähnte Machtfunktion des Begriffs der Reinheit zurück greifend, stellt sich mir dieser Prozess als folgende logische Kette dar: Frauen verloren nach und nach ihr Stimmenrecht in der Kirche - Institution der Kirche besaß eine fast absolute Macht innerhalb der Gesellschaft - wobei der Status einer Frau dadurch nicht vereinbar mit Selbstständigkeit wurde.

Die gesellschaftliche Moral basierte bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in erster Linie auf Religion und schöpfte daraus die Begründungen für wichtige soziale Normen. Die Theologie bot dabei fertige Antworten auf drängende Alltagsfragen (beispielsweise: Wie soll das Familienleben gestaltet werden?) sowie auf Fragen der allgemeinen Machtverteilung innerhalb der Gesellschaft (beispielsweise: Wer soll das Land regieren?).

Der Zusammenhang von Reinheitsvorstellungen und Moral wird besonders offensichtlich am Beispiel des zwanzigsten Jahrhunderts, das zu Recht als revolutionär in die Geschichte der Menschheit eingegangen ist. Revolutionär kann in diesem Kontext sowohl buchstäblich (z.B. die Oktoberrevolution von 1917, die das Leben des russischen Imperiums für immer veränderte) als auch im übertragenen Sinne verstanden werden: die in den siebziger Jahren ausgebrochene sexuelle Revolution änderte die allgemeinen Moralvorstellungen, die auf den menschlichen Körper bezogen waren. Themen die vorher in den Tabubereich gehörten – Sexualität, körperliche Geschlechtsbeziehungen – kamen ans Tageslicht und galten auf einmal nicht mehr als unrein.

Wie aus Mary Douglas' Untersuchungen hervorgeht, spielen der menschliche Körper und die mit ihm verbundenen Symbole und Bräuche innerhalb einer Gesellschaft eine wichtige Rolle für das Verstehen ihrer Funktionsprinzipien. Aus dieser Sicht kann behauptet werden, dass die veränderte Wahrnehmung des menschlichen Körpers im 20. Jahrhundert seinen Ausdruck unter anderem in der Theologie fand und hier insbesondere zu der bereits erwähnten Aufhebung des Reinheitsargumentes als eines der zentralen Argumente in der Diskussion um die kirchliche Stellung der Frau führte.

Obwohl der Begriff der Reinheit im unmittelbaren Zusammenhang mit dem weiblichen Geschlecht in den neuzeitlichen und modernen Diskussionen um die kirchliche Stellung der Frau eher vermieden wird und obwohl solche Diskussionen sich vor allem auf Argumente aus der seit Jahrhunderten bestehenden kirchlichen Tradition stützen, so konnte doch gezeigt werden, dass der ursprüngliche Ausschluss der Frau aus dem Kirchendienst in erster Linie auf spezifischen religiösen Reinheitsvorstellungen basierte.

Es lässt sich also vermuten, dass zwischen der gesellschaftlichen Moral und religiösen Reinheitsvorstellungen eine gewisse Wechselbeziehung besteht. Diese kann wiederum mit der besonderen Rolle der Säkularisierung im 20. Jahrhundert erklärt werden, die nicht nur dazu führte, dass die Kirche ihr Monopol in Fragen der Moral verlor, sondern auch Ursache der heftigen Diskussionen um die wichtigsten theologischen Fragen innerhalb der religiösen Institutionen an sich war.

Die Aktualisierung der Frauenrolle in der Kirche, die besonders im Protestantismus erfolgreich war, hängt vor allem mit den gesellschaftlichen Veränderungen zusammen. „Es ist vollkommen klar, dass die Frage der weiblichen Pfarrer aufgrund [...] sozialer und kultureller Faktoren, und nicht aufgrund neuer theologischer Entdeckungen, erst in unserem Jahrhundert aktualisiert wurde“[202], schreibt Vikström über das Aufkommen des Phänomens der Frauenordination im zwanzigsten Jahrhundert.

Es ist allerdings noch zu früh, um prognostizieren zu können, wann es auch in anderen Abzweigungen des Christentums zu solchen Veränderungen kommen wird. Vor diesem Hintergrund erscheinen mir Arbeiten wie die von Elizabeth Behr-Sigel sowie das Engagement der Gründerinnen von Maria von Magdala zwar als Anzeichen einer Diskussion, die noch vor Hundert Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre, doch gleichzeitig lässt es sich vermuten, dass innerhalb der nächsten Zeit keine entscheidenden, mit der evangelischen Kirchenreform vergleichbaren Änderungen stattfinden werden.

Die Tatsache dass gerade der Protestantismus diejenige Abzweigung des Christentums war, die dem Aufkommen der Frauenordination einen fruchtbaren Boden bot, erscheint mir keineswegs als Zufall. Wie oben bereits gezeigt, zeichnet sich der Protestantismus durch die Abwesenheit des Begriffs der Weihe aus. Gleichzeitig traten im Laufe meiner Recherche immer weitere Beispiele zutage, die auf die religiöse Gleichstellung der Begriffe heilig und rein verweisen. Da die protestantischen PfarrerInnen nicht mehr das Kriterium der Heiligkeit, und damit der Reinheit, erfüllen mussten, war zu erwarten, dass gerade im Protestantismus die theologischen Hindernisse auf dem Weg zur Frauenordination aufgehoben wurden.

Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass die heutige kirchliche Praxis sehr häufig der theologischen Theorie deutlich hinterherhinkt. Während Letztere sich nicht selten für eine fortschrittlichere Auslegung der Heiligen Schrift ausspricht, wird in der alltäglichen Kirchenpraxis noch sehr viel stärker am Traditionellen festgehalten. Es bedarf also sehr aussagekräftiger theologischer Erkenntnisse, die in der Praxis konsequent umgesetzt werden, um diese Situation zu ändern.

Die heutige Theologie steht vor einer enorm schwierigen Aufgabe: das Gleichgewicht zwischen Ordinatio Sacerdotalis auf der einen Seite und Postkarten mit Aufschriften wie 'Gott ist ein Mädchen' auf der anderen Seite zu finden. Allerdings kann man die Notwendigkeit einer solchen Entwicklung nicht verneinen, wobei die Tatsache berücksichtigt werden muss, dass „die Abhängigkeit der kirchlichen institutionellen Verfasstheiten von den gesellschaftlichen Gegebenheiten – und die Bindung des göttlichen Verkündigungsauftrags an eben diese menschlichen Verfasstheiten und veränderbaren Institutionen! - ein theologischer Lernprozess [ist], der noch andauert“.[203]

Die Aufhebung des Reinheitsargumentes hat meiner Meinung nach eine besondere Bedeutung für die zukünftigen Wechselbeziehungen der Geschlechter innerhalb der Kirche, denn damit verschwinden die 'Vorteile' des männlichen Geschlechts dem weiblichen gegenüber. Das Reinheitsargument stellt für mich außerdem die andere Seite des traditionellen Argumentes dar, das im katholischen sowie im russisch-orthodoxen Christentum als Hauptbegründung der Unvorstellbarkeit der Frauenordination dient. Somit konnte in dieser Arbeit gezeigt werden, wie eine theologisch begründete kultische Unreinheit der Frauen diese immer weiter von der Möglichkeit der aktiven Beteiligung am Kirchendienst entfernte und gleichzeitig Nachteile im Bezug auf ihren gesellschaftlichen Status in sich verbarg.

[199] Gal 3, 23-28.

[200] Demmytenaere 1990, S. 163.

[201] Ebd., S. 144.

[202] Vikström 1987, S. 81.

[203] Globig 1994, S. 182.
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